Seenotrettung erhöht die Zahl der Flüchtlinge, die nach Europa kommen?

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Der ehemalige österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz behauptet es. Bruno Kahl, Chef des Bundesnachrichtendiensts, behauptet es. Italiens Innenminister Matteo Salvini behauptet es. Anhänger/innen der sogenannten Pull-Theorie behaupten es auch. Und man selbst glaubt es. Auch wenn man dazu andere Motive hat, andere Schlussfolgerungen zieht und den Äußerungen der genannten Subjekte alles andere als Vertrauen entgegen bringt.

Das Problem dabei, so schreibt der Spiegel: „Es gibt keinen empirischen Beleg für diese These.“

Alles scheint logisch und verständlich: je mehr Seenotretter/innen im Mittelmeer unterwegs sind, um so mehr schutzsuchende Personen werden gerettet und umso mehr Personen überleben die Fahrt über das Mittelmeer und kommen nach Europa. Das, so der Tagesspiegel, mag so sein, ist aber für die registrierten Zahlen kaum relevant, denn weniger als 10% der Geflüchteten kommen durch die Seenotrettung in Europa an. Wörtlich schreibt die in Berlin erscheinende Tageszeitung: „Von den insgesamt 3082 Migranten, die in den ersten sechs Monaten des Jahres angelandet sind, wurden nur 297 von den privaten Rettern nach Italien gebracht – nicht einmal jeder zehnte. Die anderen kommen direkt und ohne fremde Hilfe über das Mittelmeer“.

Matteo Villa, Migrationswissenschaftler, hat die Sache untersucht und sich die Zeit zwischen dem Beginn dieses Jahres und dem 30.Juni vorgenommen, und festgestellt, dass an den 150 Tagen, „an denen keine NGOs in der Nähe der libyschen Küste fuhren, im Schnitt 34,6 Menschen von dort ablegten“, während an den 31 Tagen mit NGO-Präsenz es nur 32,8 Menschen waren.

Sozialwissenschaftler der Universität Oxford und der Scuola Normale Superiore in Florenz verglichen die Daten von drei verschiedenen Jahren miteinander und konnten feststellen, dass in den Jahren mit einem hohen EU-Engagement bei der Seenotrettung nicht mehr Menschen nach Europa kamen, als in den Jahren, in denen die EU sich in diesem Bereich weniger oder gar nicht mehr engagierte.

Was gestiegen ist, ist allerdings die Gefahr. Kamen im Jahr 2015 beim Versuch das Mittelmeer zu überqueren von 1.000 Migranten und Migrantinnen 4 ums Leben, so sind es inzwischen 25.

(Einschränkend muss jedoch ergänzt werden, dass nur Korrelationen und keine Kausalitäten untersucht wurden. Über langfristige Entwicklungen können die Studien wenig sagen. Es scheint aber nahe zu liegen, dass der Grund für Migration nicht die Seenotrettung ist, sondern die Zustände in den Heimatländern, so Franck Düvell vom Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung. Wie, wann und in welchem Umfang Seenotrettung erfolgt, hat also für die Zahl der an europäischen Küsten ankommenden Geflüchteten so gut wie keine Auswirkunngen.)

Der Spiegel

Der Tagesspiegel