Rosa, Roberto, Yoyes und Rafael

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Die Nachbarin war grade mit ihrem drei kleinen Kindern da. Es war wie immer ein fröhliches Durcheinander. Angeregt auch durch das Brausepulver und die Kaubonbons, deren geheimen Aufbewahrungsort die Kinder mittlerweile gut kannten. M. erzählte vom Urlaub der Familie. Ich konnte mich nur sehr schwer konzentrieren, weil N., der älteste Sohn, immer wieder durch kurze, kauende Mitteilungen Erlebnisse dazwischen rief, die ihm wichtig waren. L. krabbelte auf meinen Schoß und wieder runter und wieder rauf und wieder runter. Und F. bat mich jedes Mal ihm ein neues Kaubonbon auszuwickeln.

Dann schellte das Telefon. 

Ich nahm den Hörer, sagte nichts und wartete darauf, dass sich am anderen Ende jemand meldete. Es war kein Werbeanruf. Ich legte also nicht auf, als eine mir bekannte Stimme fragte, ob ich es denn schon gehört hätte. Was denn, fragte ich. Rafael ist heute entlassen worden.

A. rief nicht häufig an. Ich auch nicht. Und es hatte nichts damit zu tun, dass A. in Spanien lebte und Anrufe mehr als ein Ortsgespräch kosteten.

Ich wußte nicht, wen sie meinte. Rafael? fragte ich nach, welcher Rafael? Rafael Caride, sagte sie. Ich wußte immer noch nichts mit dem Namen anzufangen. Lutxo, schob sie nach, als müsste ich doch zumindest einen seiner Kampfnamen kennen. Hipercor, der Supermarkt in Barcelona. Etwas schien aus den tiefen des Gedächtnisses in mein Bewusstsein zurückzukehren. Ich wiederholte laut Hipercor, Barcelona. Nicht wie eine Frage. A. sagte nichts. Das war keine Pause, die sie zum Nachdenken gebraucht hätte. Dann sagte sie, Idiot, Du hast sie nicht alle! Ich verstand nicht, was sie meinte. Spinnst Du? fragte ich zurück. Was soll das denn jetzt? Nichts, sagte sie, Du bist einfach bescheuert. Ich hätte es wissen sollen.

Rafael. Mit vollständigem Namen Rafael Caride Simón, Kampfname Lutxo.

Er war heute aus dem Gefängnis entlassen worden. Freigänger war er seit zwei Jahren. Er schlief nur noch im Knast, arbeitete aber draußen. Für das Attentat 1987, bei dem in der Tiefgarage des Hipercor, einem Supermarkt in Barcelona, 21 Menschen getötet und 45 zum Teil sehr schwer verletzt worden waren, war er zu 800 Jahren Gefängnis verurteilt worden. 2003 wurde er bei der Verhandlung vor dem Spanischen Staatsgerichtshof des Saales verwiesen. Er war einer der Hauptangeklagten und pöbelte die ganze Zeit gegen die Richter, deren Autorität er einfach nicht anerkennen wollte. Für ihn und die anderen waren die Richter bloße Marionetten, Repräsentanten des von ihm und ETA bekämpften spanischen Unterdrückerstaates. Außerdem seien die wahren Schuldigen des Massakers nicht diejenigen, die hier auf der Anklagebank sitzen, meinte Caride, sondern die Regierung in Madrid.

Und diesen Sonntag ist er also aus dem Gefängnis entlassen worden. Aber nicht, weil die 800 Jahre vorbei waren, sondern weil er nach 19 Jahren in spanischen und sieben Jahren in französischen Gefängnissen wohl zur Vernunft gekommen war. Nach 21 Morden und 45 Verletzten? Kann man da noch zur Vernunft kommen? fragte ich mich.

A. redete und redete. Ich hatte keine Lust auf ihre Einschätzungen. Ich hätte gerne aufgelegt. M. mit ihren Kindern waren mir wichtiger.  Ich hatte Lust auf ein Kaubonbon oder eine Tüte Brausepulver, als A. von unserer gemeinsamen Zeit in San Sebastian quasselte, einer Zeit, die es so nie gegeben hat.

Wir kannten uns schon sehr lange. Zusammen waren wir oft auf Demonstration im Baskenland. Pro ETA, versteht sich. Manchmal verbrannten wir die spanische Fahne. Am Besten wenn TV-Teams oder die Polizei in der Nähe waren. Ich erinnere mich nicht mehr an die Sprechchöre, mit denen wir ETA hochleben ließen. Das hörte sich damals gut an. „O-la! e-ta! mi-li-ta-ra“ oder so ähnlich. Hoch lebe ETA! In unseren Kreisen war man in den 80er-Jahren selbstverständlich solidarisch mit dem militärischen Flügel der „Befreiungsbewegung“.

Worum es ging, wußte man ganz genau, obwohl man von nichts eine Ahnung hatte.

Rafael Caride war über sein gewerkschaftliches Engagement zu ETA gekommen. Er war noch sehr jung, als er in einer Fabrik in Vigo, nahe der portugiesischen Grenze, zu arbeiten begann. Er wurde schnell zum Betriebsrat gewählt und war Mitglied der kommunistischen Gewerkschaft CC.OO. Nach dem Streik 1972 wurde er entlassen. Er fand eine andere Anstellung. Bei einem Fischverarbeiter. Dort lernte er seine zweite Frau kennen, wegen der er sich scheiden ließ und ins Baskenland zog.

Wir wussten wohl eher nicht, was es tatsächlich bedeutete, ein Fahne zu verbrennen, und was es bedeutete, ETA hochleben zu lassen. Ich war immer nur auf der Durchreise. Nach ein oder zwei Tagen war ich wieder weg, denn mein Ziel war ausgerechnet Madrid. Ich wollte zu C. Schon daher wurde die Distanz zwischen uns mit den Jahren immer größer und meine Lust auf eine Zwischenstopp in Donostia San Sebastian immer kleiner.

Dann, sieben Jahre nach der Verurteilung von Rafael Caride Simón, der offene Brief.

Rafael Caride forderte zusammen mit acht weiteren Unterzeichnern – Männern wie Frauen – öffentlich, dass die Mitglieder der ETA die von ihnen angerichteten Schäden und den von ihnen verursachten Schmerz anerkennen und wieder gutmachen sollten. „Wiedergutmachung“, was für ein Wort! Aber was zählte, war, das „Etarras“ zum ersten Mal für die verübten Taten einstehen wollten. Sie zeigten zum ersten Mal Mitgefühl.

Für ETA-Führung war das, was Rafael da machte, Verrat. Aber auch die Terroristen hatten sich weiter entwickelt. Rafael erging es nicht wie Yoyes. Ihr hatte man 1986, unter den Augen ihres dreijährigen Sohnes, hinterrücks und mit aufgesetzter Pistole in den Kopf geschossen. So hoch lebte ETA.

Ich hörte A. jetzt nicht mehr zu. Auch die Ausgelassenheit der Kinder drang nicht mehr zu mir durch. Vielleicht hatte ich auch schon aufgelegt, vielleicht hatte A. aufgelegt.

2011 dann traf Rafael Caride Simon, Ex-ETA-Mitglied, Rosa. In Barcelona. Die Verbrennungen, die sie erlitten hatte, waren auch nach 30 Jahren immer noch verheilt und würden es wohl auch nicht mehr. Das war das Benzin, das die Explosion des Sprengstoffs in der Tiefgarage des Supermarktes noch tödlicher machen sollte. Dann, 2012, Roberto. Er war in der katalonischen Opferorganisation organisiert. Rosa und Roberto hatten beide den Eindruck, dass Rafael aufrichtig war und ehrliches Mitgefühl für den Schmerz zeigte, den er den beiden zugefügt hatte. Grundlos. Willkürlich. Und nicht wieder gutzumachen.

Rafael Caride ist einer von 30 Gefangenen, die diesen Weg der Resozialisierung gegangen sind.