Guter Mann

Der Mann steht vor dem Fenster. Er schaut auf die andere Straßenseite. Dort sitzt ein Mann vor dem Eingang eines der Häuser mit ungraden Hausnummern. Der Mann am Fenster ist weiß, der Mann gegenüber ist schwarz. Naja, nicht schwarz, eher braun, bräunlich.

Der Mann am Fenster denkt, dass das seltsam ist.

Den Mann von gegenüber hat er noch nie in dieser Gegend gesehen. Er schaut oft auf die Straße hinunter und kennt viele Menschen, die hier wohnen, hier vorbeigehen oder zu Besuch gekommen sind. Von einigen kennt er sogar die Namen. Mit manchen hat er gesprochen. Er weiß vieles.

Wenn seine Frau ihn etwas über diese Menschen fragt und eine Antwort von ihm bekommt, folgt oft die rein rethorische Frage, woher er das denn schon wieder wisse.

Der Mann weiß aber nichts von dem Mann auf der anderen Straßenseite. Er sieht indisch aus und trägt einen Anzug. Es gibt hier nicht viele Menschen, die Anzüge tragen.

Hat der indisch aussehen Mann etwas mit dem indischen Restaurant zu tun, das früher im Nachbarhaus war, aber schon lange geschlossen ist?

Das weiß der Mann, der am Fenster steht, nicht. Er bemerkt sein Misstrauen, ohne es erklären zu können. Es ist wohl die dunkle Hautfarbe, die ihn fremdeln läßt.

Das macht ihn nachdenklich.

Gegen das Gefühl kann er sich nicht wehren. Es ist da. Der Mann überlegt weiter, aber das führt zu nichts.

Der Mann auf anderen Straßenseite schaut auf sein Telefon. Er hält es in beiden Händen vor sich. Er sitzt auf den drei Stufen zum Hauseingang. Er schaut nicht herum als wolle er etwas auskuntschaften. Tatsächlich, so sagt sich der Mann am Fenster, sitzt dort ein Mann, der wohl auf irgendwen oder irgendetwas wartet.

Jetzt kommt von links noch ein Mann ins Bild. Das ist Herr Weier.

Herr Weier ist geschieden. Herr Weier hat eine Garage im Hinterhof der Häuser mit den geraden Hausnummern. Er wohnt aber mit seiner neuen Frau schräg gegenüber. In dem anderen Haus mit der ungraden Hausnummer.

Herr Weier hat eingekauft. Er trägt eine Kiste und stellt sie auf dem breiteren Simms des großen Bürofensters. Ganz in der Nöhe der Treppe, wo der indisch aussehende Anzugträger sitzt.

Kennen sich die beiden?

Herr Weier läßt die Kiste auf der Fensterbank stehen, geht zurück zu seinem Auto, das noch mit geöffnetem Kofferraum in der Garage steht, und holt eine zweite Kiste, die er neben die erste auf die breite Fensterbank stellt. Herr Weier hat den Mann auf der Treppe entweder nicht gesehen oder es ist doch so, dass sich die beiden kennen.

Herr Weier muss etwas verschnaufen. Die beiden Kisten sind schwer.

Eine Tüte Milch wiegt ein Kilo; der kleine Sack Kartoffeln wiegt zweieinhalb Kilo; der große Behälter mit dem griechischen Joghurt wiegt ein Kilo. Und Herr Weier hat noch viel mehr gekauft: Möhren, Käse, Zucchinis, Mineralwasser, Brot, Haferflocken, Fleisch, Waschmittel, Hundefutter, Dosen mit Bohnen, Dosen mit Tomaten, ein Glas eingemachte Kirschen, Zucker. Olivenöl. Das weiß der Mann am Fenster und er sieht es.

Jetzt nimmt Herr Weier die erste Kiste. Er läuft an dem Mann auf der Treppe vorbei nach Hause. Der schaut immer noch auf sein Smartphone und beachtet die andere Kiste, die Herr Weier auf der Fensterbank zurückgelassen hat, nicht.

Da kommt Herr Weier zurück. Jetzt löuft er von rechts ins Bild. Er bemerkt den Mann auf den Stufen. Er grüßt ihn, scheint ihn vorher nicht bemerkt zu haben. Der Mann am Fenster kann nicht sehen, ob der indische Mann zurückgrüßt. Herr Weier bleibt neben ihm stehen. Er muss wieder verschnaufen. Er schaut zur zweiten Kiste, dann zu dem auf den Stufen sitzenden Mann. Er sagt etwas. Dann nimmt er die zweite Kiste und bringt auch diese nach Hause. Herr Weier kommt nicht noch einmal zurück. Der Kofferraum seines Autos und die Garagentüre hat Herr Weier geschlossen. Es gibt keinen Grund, warum er noch einmal zurückkommen sollte.

Jetzt schaut der Mann mit dem dunklen Anzug nach gegenüber. Zum Nebenhaus mit der graden Hausnummer. Er blickt auf seine Armbanduhr. Er steht auf und löuft rechts hinunter aus dem Bild. Der Mann vor dem Fenster schaut ihm nicht lange hinterher. Er geht in die Küche. Dort liegt ein Stapel alter Zeitungen auf dem Tisch. Der Mann nimmt den Stapel und trögt ihn nach unten auf den Hof. Gegenüber den Garagen stehen die Mülleimer. Die grüne Tonne ist für Papier.